Neben dem allgemeinen Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz, kennt das Arbeitsrecht auch noch den besonderen Kündigungsschutz für bestimmte Personengruppen, beispielsweise für Mütter und für Schwerbehinderte (Sonderkündigungsschutz). Gemäß § 168 SGB IX bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber, der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Die Kündigung eines Schwerbehinderten ohne Zustimmung des Integrationsamtes ist nichtig (BAG 15.05.1997 Az. 2 AZR 43/96).
Die Unwirksamkeit der Kündigung des Schwerbehinderten – darauf können wir als Rechtsanwälte nicht oft genug hinweisen – muss allerdings innerhalb von drei Wochen nach Kündigungszugang durch eine Klage geltend gemacht werden, andernfalls ist sie wirksam (§ 4 Abs. 1 KSchG). Nachfolgend wollen wir als Fachanwälte für Arbeitsrecht die Grundzüge des Sonderkündigungsschutzes für Schwerbehinderte darstellen.
1. Geltungsbereich des Sonderkündigungsschutzes für Schwerbehinderte
a) Schwerbehinderte und Gleichgestellte
Menschen sind nach § 2 SGB IX schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt (Schwerbehinderte). Schwerbehinderten Menschen können behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30 gleichgestellt werden (Gleichgestellte). Voraussetzung hierfür ist, dass sie ohne die Gleichstellung keinen geeigneten Arbeitsplatz finden können. Die Gleichstellung wird auf Antrag festgestellt.
b) Ausnahmen vom Kündigungsschutz
aa) Arbeitsverhältnisse von weniger als 6 Monaten Dauer
Von dem Kündigungsschutz sind gem. § 173 SGB IX Schwerbehinderte und ihnen Gleichgestellte ausgenommen, deren Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung noch nicht länger als 6 Monate bestanden hat.
bb) Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft
Der besondere Kündigungsschutz gilt ferner nicht, wenn zum Zeitpunkt der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist oder das Versorgungsamt nach Ablauf der Frist des § 152 SGB IX eine Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft wegen fehlender Mitwirkung nicht treffen konnte.
Als Nachweis der Schwerbehinderung gilt ein Schwerbehindertenausweis oder ein Feststellungsbescheid. Jeder Nachweis ist allerdings entbehrlich, wenn die Schwerbehinderteneigenschaft offenkundig ist (BAG 13.02.2008 Az. 2 AZR 864/06).
Auf der fehlenden Mitwirkung des Schwerbehinderten, das das Integrationsamt die Schwerbehinderteneigenschaft nicht feststellen konnte beruht es, wenn z. B. der Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderung nicht mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt wurde (BAG 29.11.2007 Az. 2 AZR 613/06). Ist der Antrag allerdings wenigstens drei Wochen vor Kündigungszugang gestellt, bleibt der Sonderkündigungsschutz trotz fehlenden Nachweises zum Kündigungszeitpunkt erhalten, wenn die Anerkennung als Schwerbehinderter rückwirkend erfolgt (BAG 06.09.2007 Az. 2 AZR 324/06).
Die Regelung des § 90 Abs. 2a SGB IX gilt auch für Gleichgestellte. Der besondere Kündigungsschutz gilt also auch dann nicht, wenn die Eigenschaft als Gleichgestellter zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung nicht nachgewiesen ist (BAG 01.03.2007 Az. 2 AZR 217/06).
2. Kenntnis des Arbeitgebers von der Schwerbehinderung
a) Unterrichtungspflicht
Wenn der Arbeitgeber bis zum Zeitpunkt der Kündigung noch keine Kenntnis von der Schwerbehinderung hatte, dann muss ihn der Arbeitnehmer innerhalb von drei Wochen von der Schwerbehinderung oder der Antragstellung als Schwerbehinderter in Kenntnis setzen (BAG 11.05.2000 Az. 2 AZR 276/99). Mit der Verpflichtung des Arbeitnehmers, den Arbeitgeber schon über die Antragstellung als Schwerbehinderter zu unterrichten soll sichergestellt werden, dass der Arbeitgeber von den möglicherweise den Sonderkündigungsschutz begründenden Umständen Kenntnis hat (BAG 22.09.2016 Az. 2 AZR 700/15).
Wenn allerdings die Schwerbehinderung und der Grad der Behinderung von wenigstens 50 offensichtlich ist, dann bedarf es keiner Mitteilung (BAG 13.02.2008 Az. 2 AZR 864/06).
Ausreichend ist es ferner, wenn der Arbeitgeber innerhalb der drei Wochen die Kenntnis der Schwerbehinderung durch eine rechtzeitig eingereichte Klage des Arbeitnehmers oder seines Rechtsanwaltes erhält.
b) Fragerecht des Arbeitgebers
Die Frage nach einer Schwerbehinderung ist nach dem Erwerb des Sonderkündigungsschutzes, also nach 6 Monaten Dauer des Arbeitsverhältnisses, zulässig. Beantwortet der Arbeitnehmer eine zulässige Frage bewusst falsch, kann er sich nicht mehr auf den Sonderkündigungsschutz als Schwerbehinderter berufen (BAG 16.02.2012 Az. 6 AZR 553/10).
Näheres zum Fragerecht des Arbeitgebers erläutern wir unter Ziff. 3 beim Einstellungsgespräch.
3. Zustimmung zur ordentlichen Kündigung eines Schwerbehinderten (§§ 170-172 SGB IX)
a) Antrag des Arbeitgebers
Der Arbeitgeber oder der bevollmächtigte Anwalt muss die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Schwerbehinderten schriftlich beim örtlich zuständigen Integrationsamt beantragen. Das Integrationsamt soll die Entscheidung innerhalb eines Monats nach Eingang des Antrags treffen.
b) Negativattest des Integrationsamtes
Die Schwerbehinderung wird i.d.R. rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt. Das kann dazu führen, dass eine Kündigung unwirksam ist, wenn nach Ausspruch der Kündigung rückwirkend die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers festgestellt wird. Wenn der Arbeitgeber nicht weiß, ob der Arbeitnehmer schwerbehindert ist oder ob er einen Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderung gestellt hat, sollte er sich an das Integrationsamt wenden. Das Integrationsamt kann ein sog. „Negativattest“ erteilen, wenn es zu dem Ergebnis kommt, dass die Kündigung keiner Zustimmung bedarf. Wenn das Negativattest bestandskräftig wird, ist rechtskräftig festgestellt, dass der Sonderkündigungsschutz für den Schwerbehinderten nicht besteht und die arbeitsrechtliche Kündigung ist zulässig (BAG 16.02.2012 Az. 6 AZR 553/10). Erst die Rechtskraft des Negativattestes beseitigt die möglicherweise bestehende Kündigungssperre (BAG 09.06.2011 Az 2 AZR 703/09).
c) Zustimmung und Kündigung
Das Integrationsamt hat seine Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Wird die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung eines Schwerbehinderten durch das Integrationsamt erteilt, kann der Arbeitgeber innerhalb eines Monats nach Zustellung des Bescheids, die Kündigung erklären. Die Kündigung muss dem Arbeitnehmer innerhalb der Frist zugehen. Die Kündigung eines Schwerbehinderten ist mit einer Mindestkündigungsfrist von vier Wochen zu erklären (§ 169 SGB IX).
Wird allerdings der Zustimmungsbescheid des Integrationsamtes nach Widerspruch oder Anfechtungsklage aufgehoben, führt das rückwirkend zur Unwirksamkeit der Kündigung des Schwerbehinderten. Solange die Zustimmung nicht rechtskräftig aufgehoben wurde, entfaltet sie aber für den Kündigungsschutzprozess Wirksamkeit. Voraussetzung ist aber auch hier, dass rechtzeitig nach Kündigungszugang durch den Arbeitnehmer oder seinen Anwalt eine Kündigungsschutzklage erhoben worden ist (BAG 23.05.2013 Az. 2 AZR 991/11).
4. Zustimmung zur Änderungskündigung eines Schwerbehinderten (§ 172 SGB IX)
Auch vor einer Änderungskündigung eines Schwerbehinderten ist im Arbeitsrecht die Zustimmung des Integrationsamtes einzuholen. Allerdings soll in diesem Fall die Zustimmung zur Kündigung nur dann durch das Integrationsamt erklärt werden, wenn der neue Arbeitsplatz für den Schwerbehinderten angemessen und zumutbar ist. Das ist der Fall, wenn der Arbeitsplatz nach Entgelt und Tätigkeit, den durch die Behinderung bedingten Einsatzmöglichkeiten entspricht. Dabei darf das künftige Entgelt auch geringer sein, wenn dadurch die Lebensstellung des Schwerbehinderten nicht verschlechtert wird (BayVGH 13.11.2012 Az. 12 B 12.1675).
5. Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung eines Schwerbehinderten (§ 174 SGB IX)
a) Antragsfrist zwei Wochen
Auch hier muss der Antrag auf Zustimmung zur fristlosen Kündigung des Arbeitsvertrages eines Schwerbehinderten schriftlich beim Integrationsamt gestellt werden. Aber anders als bei der Zustimmung zur ordentlichen Kündigung, muss der Arbeitgeber den Antrag hier innerhalb von zwei Wochen stellen, nachdem er von den Kündigungsgründen für die fristlose Kündigung des Schwerbehinderten im Arbeitsrecht Kenntnis erhalten hat (§ 174 SGB IX).
b) Entscheidungsfrist zwei Wochen
Sodann hat das Integrationsamt innerhalb von zwei Wochen über den Antrag des Arbeitgebers auf Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Schwerbehinderten zu entscheiden. Falls das Integrationsamt nicht innerhalb von zwei Wochen über den Antrag entscheidet, gilt die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung als erteilt. Die fingierte Zustimmung zur Kündigung dess Schwerbehinderten ist als ausdrücklich erteilte Zustimmung und damit als Verwaltungsakt anzusehen, die ihrerseits mit Widerspruch und Anfechtungsklage seitens des Schwerbehinderten angreifbar ist (BVerwG 10.09.1992 Az. 5 C 39.88). Aus diesem Grund muss das Integrationsamt den Schwerbehinderten schriftlich davon in Kenntnis setzen, dass es eine fingierte Zustimmung zur Kündigung gibt. Durch die Zustellung dieser Mitteilung wird die Widerspruchsfrist des Schwerbehinderten gegen den Bescheid ausgelöst.
Die Zustimmungsfiktion greift bereits dann nicht ein, wenn die ablehnende Entscheidung des Integrationsamtes innerhalb der Frist vom Integrationsamt abgesandt wurde. Es kommt nicht darauf an, dass die Entscheidung dem Arbeitgeber innerhalb der Frist auch zugestellt wurde (BAG 09.02.1994 Az. 2 AZR 720/93).
Für den Arbeitgeber macht es die Zustimmungsfiktion zur Kündigung des Schwerbehinderten ungewiss, ob und wann die Kündigungssperre beseitigt ist und die Zustimmung als erteilt gilt. Deshalb darf der Arbeitgeber schon fristlos kündigen, wenn ihm telefonisch mitgeteilt wird, dass seinem Antrag stattgegeben wurde (BAG 19.06.2007 Az. 2 AZR 226/06).
c) Entscheidung des Integrationsamtes
Anders als bei der ordentlichen Kündigung des Schwerbehinderten, ist das pflichtgemäße Ermessen des Integrationsamtes bei der Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung im Arbeitsrecht eingeschränkt. Die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung soll hier im Regelfall erteilt werden, wenn der vom Arbeitgeber angegebene Kündigungsgrund nicht im Zusammenhang mit der Behinderung steht. Ob der Kündigungsgrund im Zusammenhang mit der Schwerbehinderung steht, wird vom Integrationsamt auf der Grundlage des vom Arbeitgeber mitgeteilten Kündigungsgrundes geprüft (BVerwG 12.07.2012 Az. 5 C 16/11). Das Integrationsamt darf die Zustimmung nur verweigern, wenn der vom Arbeitgeber mitgeteilte Sachverhalt atypisch erscheint (BVerwG 02.07.1992 Az. 5 C 39/90).
d) Kündigung nach Zustimmung
Eine außerordentliche Kündigung des Schwerbehinderten muss im Arbeitsrecht gem. § 626 Abs. 2 BGB innerhalb einer Frist von zwei Wochen (Kündigungserklärungsfrist), nachdem der Arbeitgeber Kenntnis von den Kündigungsgründen erhalten hat, zu erfolgen. Da aber das Integrationsamt ebenfalls zwei Wochen Zeit hat, um eine Entscheidung zu treffen, kann der Arbeitgeber die Frist nicht einhalten. Es ist deshalb ausreichend, wenn die außerordentliche Kündigung durch den Arbeitgeber unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung des Integrationsamtes erklärt wird.
Eine außerordentliche Kündigung eines Schwerbehinderten, die ohne Zustimmung des Integrationsamtes erklärt wurde, ist nichtig (BAG 23.05.2013 Az. 2 AZR 991/11).
An dieser Stelle nochmals der Hinweis, dass auch hier die Klagefrist von drei Wochen nach Zugang der Kündigung durch den Arbeitnehmer bzw einem Rechtsanwalt eingehalten werden muss, ansonsten ist die Kündigung wirksam (§ 4 S. 1 KSchG).
6. Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung
Existiert im Betrieb eine Schwerbehindertenvertretung, hat der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung zu beteiligen, wenn er einem Schwerbehinderten oder Gleichgestellten kündigen will (§ 178 Abs. 2 S. 3 SGB IX). Der Arbeitgeber muss die Schwerbehindertenvertretung umfassend unterrichten und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Die Anhörung muss allerdings nicht schon erfolgen, bevor der Arbeitgeber den Betriebsrat beteiligt oder das Integrationsamt um Zustimmung zu einer beabsichtigten Kündigung ersucht. Der erforderliche Inhalt der Anhörung und die Dauer der Frist für eine Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung, richten sich nach den für die Anhörung des Betriebsrates geltenden Grundsätzen (§ 102 BetrVG). Die Schwerbehindertenvertretung hat also Bedenken gegen eine ordentliche Kündigung innerhalb von einer Woche und Bedenken gegen eine außerordentliche Kündigung innerhalb von drei Tagen mitzuteilen.
Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Schwerbehinderten, die ein Arbeitgeber ohne Anhörung der Schwerbehindertenvertretung ausspricht, ist unwirksam. Das gilt für alle Kündigungen, die zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen können. Das sind sämtliche Beendigungs- und Änderungskündigungen und auch Kündigungen, bei denen das Arbeitsverhältnis noch keine 6 Monate bestanden hat (BAG 13.12.2018 Az. 2 AZR 378/18, vorgehend ArbG Leipzig Az. 8 Ca 1122/17).